Nach aktuellen Schätzungen ist fast jeder Zehnte in Deutschland von Tinnitus betroffen.[1]
Ursachen für Tinnitus
Für die Tinnitussymptomatik gibt es eine Vielzahl von Ursachen und Zusammenhängen. Körperliche Ursachen können der Fall sein, wie etwa Hörsturz, altersbedingte Schwerhörigkeit, Erkrankungen und Kopfverletzungen. Aber auch extremer Lärm oder Medikamente können Tinnitus induzieren.
Stress und Tinnitus
Auch Stress ist ein relevanter Faktor bei Tinnitus, was schon in der volkstümlichen Redeweise „man hat viel um die Ohren“ zum Ausdruck kommt. Der Zusammenhang zwischen Tinnitus und Stress ist vielschichtig. Stress kann Tinnitus auslösen und verstärken.
Menschen, bei denen Tinnitus stressassoziiert ist, machen häufig die Erfahrung, dass sie in stressigen Situationen die Ohrengeräusche lauter wahrnehmen. Einige Betroffene wissen diesen Zusammenhang positiv für sich zu nutzen: Sie sehen in den Tinnitusgeräuschen ein Warnsignal dafür dass die eigenen Belastungsgrenzen erreicht sind und sie „einen Gang runterschalten müssen.“
Andererseits kann auch Tinnitus zum Stressor werden. Kognitionspsychologen gehen davon aus, dass das Pfeifen im Ohr vor allem dann zur Belastung wird, wenn es zu einem emotional belegten Thema wird.[2] Mit anderen Worten, wer innerlich den Tinnitus zum „Feind“ erklärt und den Kampf gegen den Tinnitus antritt, der verschlimmert die Erfahrung. Denn zu den Geräuschen kommen zusätzlich stark belastende Gefühle von Hilflosigkeit, Wut und Frust hinzu, wenn der Tinnitus nicht „zu besiegen“ ist.
Studien haben herausgefunden, dass längst nicht alle Betroffenen die Geräusche im Ohr als belastend wahrnehmen. Die meisten Menschen sind an das Pfeifen, Piepen oder Brummen im Ohr gewöhnt und betrachten es als nebensächlich. Etwa 8% der Bevölkerung empfinden die Geräusche als Belästigung. Etwa 1% der Betroffenen, gibt an, durch den Tinnitus erheblich im Leben beeinträchtigt zu werden. Sie entwickeln dadurch Schlafstörungen, Depressionen oder Angstzustände.[1]
Der Zusammenhang Wahrnehmung – Aufmerksamkeit – Tinnitus
Auslöser für diese Negativspirale, die bei manchen Menschen bis zur psychischen Erkrankung führen kann, sind Bewertungen und Einstellungen. Negatives Bewerten – wer etwa die Geräusche als „störend“ oder „gefährlich“ einstuft- löst negative Gefühle und Reaktionen aus. Sie beeinflussen unmittelbar unsere Wahrnehmung und steuern unsere Aufmerksamkeit. Negative Bewertungen ziehen automatisch Aufmerksamkeit auf sich und das, was wir als negativ bewerten erscheint „größer“ als es in Wirklichkeit ist. Eine verzerrte Wahrnehmung ist das Resultat. Diese Mechanismen von Bewertung, selektiver Aufmerksamkeit und Wahrnehmung werden als Schlüssel zur Stressbewältigung bei Tinnitus gesehen.
Wie hilft Achtsamkeit bei Tinnitus?
Und genau hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Es gibt bisher erst wenige Pilotstudien dazu, aber die Ergebnisse weisen darauf hin, dass nach einem mehrwöchigen Achtsamkeitstraining die Belastung von Tinnitus signifikant gesenkt werden kann. [3]
Durch bewusstes Wahrnehmen ohne zu werten werden negative Wahrnehmungsmuster durchbrochen, was wiederum ungesunde Belastungsreaktionen wie Angst vor Überwältigung, Kontrollverlust, Frust und Depression verringert.
Die Studienergebnisse zeigen, dass sich bei den Probanden deutlich die Lebensqualität verbesserte und sie sich im Alltagsleben weniger durch den Tinnitus eingeschränkt fühlen. So etwa zeigten Studienteilnehmer nach einem mehrwöchigen Achtsamkeitstraining ein vermindertes Vermeidungsverhalten. Betroffene versuchen Situationen zu meiden, die entweder besonders laut oder besonders still sind. Beide Situationen werden als bedrohlich bewertet. Entweder besteht die Sorge, dass sich der Tinnitus durch Lärm verschlimmern könnte, was auch zu einer übertriebenen Überempfindlichkeit gegen Geräusche führen kann. Andere wiederum sehen in der Stille die Gefahr. In stiller Umgebung nämlich sind die Geräusche deutlicher wahrzunehmen.
Fazit
Auch wenn der Forschungsbedarf im Wirkungsfeld von Achtsamkeit und Tinnitus noch lange nicht gedeckt ist, darf schon ein erstes Zwischenfazit gezogen werden: Achtsamkeit ist ein effektives Innstrument zur Stressbewältigung für alle, die unter dem Ohrensausen leiden. Wichtig ist dabei das Entwickeln einer neuen, positiven Einstellung, was auch als Resilienzfaktor bezeichnet wird.
Eine neue, annehmende Einstellung gegenüber unangenehmen Erfahrungen einzunehmen bedeutet nicht, dass sich die Erfahrung an sich verändert. Der Tinnitus wird durch Achtsamkeit nicht plötzlich zu einem angenehmen Erlebnis. Mit anderen Worten, die Einstellung bestimmt, wie wir mit dem, was wir erleben in Beziehung treten. Ob wir dem Tinnitus gegenüber eine akzeptierende Haltung einnehmen oder ihn abwehren und bekämpfen, ist letztlich ganz entscheidend dafür, wie belastend der Tinnitus auf uns wirkt.
Achtsamkeit sollte eine schulmedizinische Diagnose und Therapie nicht ersetzen, sondern begleiten.
Quellen
[1] Kreuzer P, Vielsmeier V, Langguth B (2013): Chronischer Tinnitus – eine interdisziplinäre Herausforderung. Deutsches Ärzteblatt International 110 (16):278-284.
[2] McKenna L, Handscomb L, Hoare D, Hall (2014): A Scientific Cognitive-Behavioral Model of Tinnitus: Novel Conceptualizations of Tinnitus Distress. Frontiers in Neurology 5 (196):1-15.
[3] Rademaker M , Stegeman I, Ho-Kang-You K, Stokroos R , Smit (2019): The Effect of Mindfulness-Based Interventions on Tinnitus Distress. A Systematic Review. Frontiers in Neurology, 10, 1135.
Fotos:
Christopher Campbell/Unsplash; Anna Dziubinska/Unsplash